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12. Mensch und Natur

- Wie naturnah ist eine Fluss?

Wie sieht ein natürlicher Fluss aus? Klares, sauberes Wasser sollte er haben, mit vielen Pflanzen drum herum. Nicht diese zubetonierten Abflusskanäle mit der darin fließenden braunen Brühe. So oder ähnlich würden vermutlich die Antworten bei einer Umfrage zu diesem Thema lauten.
Dabei ist aber vielen Menschen nicht bewusst, dass klares Wasser nicht unbedingt sauberes Wasser bedeutet. Denn viele für Tiere, Pflanzen und auch den Menschen giftige Chemikalien sind in Wasser gelöst farblos und können mit bloßem Auge nicht erkannt werden. Und entgegen der ersten Vermutung muss braune Brühe auch nicht zwangsläufig starke Verschmutzung bedeuten. Der Transport von Erde oder Schlamm im Wasser, der es trübe erscheinen lässt, ist nämlich ein natürlicher Vorgang. Und nicht zuletzt gehören zur Beurteilung der Naturnähe eines Flusses auch Kriterien wie die Durchgängigkeit. Wir wollen also klären, wie sich die Naturnähe eines Flusses wissenschaftlich und möglichst objektiv klären lässt.

Als Ideal eines Flusses, an dem man sich orientiert, gilt ein völlig naturbelassener Fluss. Er sollte seinen Lauf und seine Umgebung frei von menschlichen Eingriffen gestalten und den typischen Tieren und Pflanzen Lebensraum bieten können. Alle anderen Fließgewässer, bei denen bereits menschliche Eingriffe stattgefunden haben, gelten nicht mehr als naturnaher Fluss. Mit der Naturnähe wird beurteilt, wie stark sich ein Fluss von einem naturbelassenen Idealfluss unterscheidet und inwieweit er damit noch ein geeignetes Biotop für die typische Tier- und Pflanzenwelt ist.

Zur Beurteilung der Naturnähe gibt es folgende Kriterien:
Die Durchgängigkeit eines Fließgewässers hat bei der Beurteilung der Naturnähe eine entscheidende Bedeutung. So können beispielsweise im Unterlauf lebende Tiere von Nährstoffen abhängig sein, die normalerweise von oberen Flussabschnitten mit dem Flusswasser herantransportiert werden. Wenn aber ein Staudamm, Wehr oder eine Schleuse im Fluss errichtet worden ist, werden auch die mitgeschwemmten Stoffe gestaut und lagern sich dort ab. Außerdem schränken diese künstlichen Hindernisse große und kleine Tierarten in ihrer Wanderung stromaufwärts extrem ein. Bekanntestes Beispiel hierfür ist der Lachs, der wegen dieser Barrieren seine Laichgebiete am Flussoberlauf nicht mehr erreichen und sich dadurch nicht fortpflanzen kann und so im jeweiligen Fluss meist vollständig ausstirbt. Es wurde versucht, diese Barrieren durch Fischtreppen wieder aufzuheben (siehe dazu "Strom aus dem Strom"). Doch sie müssen den Fischen über viele kleine Becken auch tatsächlich die Möglichkeit bieten den Höhenunterschied überbrücken zu können. Kleineren Lebewesen bleibt selbst mit Hilfe der Fischtreppen der Weg flussaufwärts versperrt. Die meisten Eingriffe in die Durchgängigkeit eines Flusses haben also direkte Auswirkungen auf die Artenvielfalt und ihre Zusammensetzung und verschlechtern die Naturnähe daher erheblich.

Ein weiteres Kriterium ist die Menge von verschiedensten Stoffen, die in das Gewässer gelangen. Hierbei ist es keinesfalls so, dass überhaupt keine Stoffe in den Fluss gelangen dürfen. Natürliche Stoffeinträge finden zum Beispiel bei Hochwasser statt, wenn durch die Überflutung von großen Flächen Boden und tote Pflanzenteile in das Gewässer gespült werden. Vor allem Kleinstlebewesen wie die Zerkleinerer, aber auch Algen und Wasserpflanzen sind auf solche Nährstoffe von außen angewiesen. Es beschränkt sich dabei aber auf biologische und leicht abbaubare Substanzen, die die Selbstreinigungsprozesse des Gewässer nicht überstrapazieren. Die Zufuhr von Stoffen kann das natürliche Niveau aber leicht überschreiten, z.B. durch die übermäßige Düngung von Äckern mit Gülle. Oder aber es gelangen anorganische Stoffe wie Pestizide oder ungeklärte Abwässer in den Fluss und überfordern das Ökosystem. Einmal aus dem Gleichgewicht geraten kann es unter anderem zu Fischsterben oder Massenvermehrung von Algen kommen.

Um einen Fluss als naturnah einzustufen, muss er außerdem in seine Umgebung passen, also quasi Kennzeichen oder Aushängeschild seiner Region sein. So wäre nämlich ein Gewässerbett aus Stein im Tiefland ganz untypisch, denn dort herrschen normalerweise feine Kies-, Sand- oder Lehmböden vor. Allgemein gilt, dass nur für ihre Region typische Fließgewässer auch den dort heimischen Pflanzen und Tieren einen geeigneten Lebensraum bieten.

Das letzte Kriterium, die Gewässergüte, beinhaltet das weitaus umfangreichste Teilgebiet innerhalb der Naturnähe und soll daher in einem eigenen Kapitel erklärt werden (siehe dazu "Wie die Pille die Wasserqualität beeinflusst").

Die Naturnähe der Leine
Begradigte Leine bei Hollenstedt,
die Felder reichen bis ans Ufer; wenig naturnah.
Quelle: Ralf Strobach
Wenn man die Kriterien der Naturnähe an der Leine überprüft, kommt man leider zu der Erkenntnis, dass sie kein besonders naturnaher Fluss ist. Wie bei vielen Flüssen ist auch bei der Leine die morphologische Gewässergüte ein Problem. An vielen Stellen ist die Leine durch Menschenhand verändert worden und entlang ihrer gesamten Fließstrecke finden sich kaum unveränderte, naturbelassene Flussabschnitte. Über die Jahrhunderte wurde sie vom Menschen umgeleitet, vertieft und ihre Ufer in ein enges Korsett aus Deichen gezwängt, was zu einer schlechteren Gewässerstruktur geführt hat. Allerdings hat sich im Laufe der Jahre z.B. wieder ein Uferbewuchs entwickelt, der der Leine ein "natürliches Äußeres" verleiht. Genauer betrachtet bestehen aber die Einengungen bzw. Veränderungen nach wie vor.

Die Wehre, die im Stadtgebiet von Hannover bis vor einigen Jahren die Durchgängigkeit des Flusses blockiert haben, sind durch Umflutgewässer für die Fische "umgehbar" geworden (siehe dazu "Strom aus dem Strom").


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