Atomkraftwerke - Unsicher und grundrechtswidrig  
Ein Bericht über Kernschmelzgefahr und Grundrechtsbeeinträchtigungen


Einleitung

Der Arbeitskreis Atom der BIU Bürgerinitiative Umweltschutz Hannover legt mit diesem Buch das Ergebnis von vier Jahren Arbeit vor.

Wir wurden auf das Thema Reaktorunsicherheit aufmerksam, als in den ersten Atomkonsens-Vorschlägen vom Dezember 1992 auch die Option für den Neubau von Atomkraftwerken gefordert wurde. Gemeint war damit der neue von Siemens zusammen mit dem französischen Unternehmen Framatome geplante Druckwasser-reaktor European Pressurized Water Reactor EPR. Im Frühjahr 1993 wurde die Forderung der Stromwirtschaft bekannt, für den EPR ein sogenanntes standort-unabhängiges Genehmigungsverfahren durchzuführen. Das machte uns endgültig hellhörig.

Ein standortunabhängiges Genehmigungsverfahren hatte es nämlich schon einmal für ein früheres Projekt von Siemens gegeben, für den Hochtemperaturreaktor Modul.

Einige von uns hatten mitgearbeitet in der Arbeitsgruppe der Bürgerinitiativen gegen den HTR-Modul, kürzer AG gegen HTR. Diese Gruppe war von Bürgerinitiativen aus vielen anderen Orten der Bundesrepublik gebeten worden, die Mobilisierungs-arbeiten gegen den HTR-Modul zu koordinieren, für den Siemens 1987 in Niedersachsen einen Genehmigungsantrag gestellt hatte. Unsere wichtigsten Erfahrungen waren damals: Die genauere Kenntnis der Technik dieses Atomkraftwerks machte es möglich zu belegen, daß dieser Reaktortyp zu unsicher und zu kostenaufwendig war gegenüber anderen konventionellen Kraftwerkstypen für dieselben Anwendungsbereiche. Das Genehmigungsverfahren ohne Benennung eines Standorts entsprach nicht einem verfassungsgemäßen Rechtsschutz der Bürger, wie er im Mülheim-Kärlich-Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1979 gefordert wird. Es hatte sich als grundrechtswidrig herausgestellt. Nachdem das Genehmigungsverfahren im Frühjahr 1989 ergebnislos beendet werden mußte, hat Siemens das Projekt HTR-Modul aufgegeben. Unsere Erfahrungen kamen uns nun zugute.

Als wir im Frühjahr 1994 anfingen, uns ernsthaft mit dem EPR zu beschäftigen, stießen wir sehr bald auf den heute anerkannten Stand von Wissenschaft und Technik: Auch in den angeblich so sicheren Atomkraftwerken in der Bundesrepublik Deutschland kann es zu schweren Kernschmelzunfällen kommen. Die freigesetzten radioaktiven Stoffe werden über viele hundert Kilometer transportiert. Flächen bis zur Größe von 10 000 km2 können so stark radioaktiv verseucht werden, daß die Menschen evakuiert oder sogar umgesiedelt werden müssen. Gegen die Gefahren aus den freigesetzten radioaktiven Stoffen sind Katastrophenschutzmaßnahmen unzureichend. Die Folgen schwerer Kernschmelzunfälle stellen sich daher für die Bevölkerung als Grundrechtsverletzungen dar.

Wir waren gerade zu dieser Erkenntnis gekommen, als im Bundestag die Änderung des Atomgesetzes vom 29. April 1994 beschlossen wurde, mit der der neue § 7 Abs. 2a geschaffen wurde. Zwar ist darin der neueste Stand der Wissenschaft über die Kernschmelzgefahr anerkannt, trotzdem wurde der weitere Betrieb der bestehenden Atomkraftwerke rechtlich abgesichert. Außerdem wurden die Bedingungen für die Genehmigung neuer Atomkraftwerke festgelegt; das bezog sich auf den geplanten EPR.

Scheinbar waren uns damit alle Handlungsmöglichkeiten genommen. Wir fanden trotzdem: Es ist nie zu spät, gegen Bedrohungen etwas zu unternehmen.

Um uns die nötigen Grundlagen zu erarbeiten, veranstalteten wir im Sommer 1994 zwei Seminare als Bürgerinitiativtreffen. In dem ersten Treffen ging es um die technische Seite der Kernschmelzproblematik. Wir befaßten uns mit den heutigen offiziellen Erkenntnissen über die Kernschmelzmöglichkeiten; diese liegen vor seit der Veröffentlichung der Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke Phase B im Juni 1989, des Gutachtens des Öko-Instituts für den Minister für Soziales, Gesundheit und Energie des Landes Schleswig-Holstein zur Bewertung der Ergebnisse der Phase B der Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke vom Oktober 1989, einigen weiteren Arbeiten des Öko-Instituts und mit zwei Artikeln aus dem Kernfor-schungszentrum Karlsruhe, die im Januar 1993 in der Zeitschrift KfK-Nachrichten veröffentlicht worden sind. Für weitere Informationen benutzten wir die Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz in der Umgebung kerntechnischer Anlagen, die das Bundesumweltministerium im Februar 1989 herausgegeben hat.

Wir stellten fest: Es war noch nie so leicht wie heute, nachzuweisen, daß der Weiterbetrieb der in der Bundesrepublik existierenden Atomkraftwerke grundrechtswidrig ist. Schon damals war auch zu erkennen, daß der EPR den heutigen Anforderungen an die Sicherheit von Atomkraftwerken nicht genügt.

Im zweiten Treffen beschäftigten wir uns mit den verfassungsgemäßen Rechten der Bürger und den ursprünglichen Schutzforderungen des Atomrechts. Dabei wurde die Bedeutung herausgestellt, die dem Kalkar-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1978 für den Schutz des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit zukommt.

Das Ergebnis ist: Der § 7 Absatz. 2a, der 1994 ins Atomgesetz eingefügt wurde, enthält schwerwiegende Beschränkungen der Grundrechte der Bürger, er ist grundrechtswidrig.

Die Arbeitsergebnisse dieser beiden Treffen ermutigten uns, die gewonnenen Erkenntnisse zu veröffentlichen. Es entstand der Plan für dieses Buch.

Wir entdeckten bald, daß das Neue am heutigen Stand der Dinge nur verständlich wird, wenn man die Geschichte der Diskussion um die Gefahren der Atomenergie seit dem Beginn der öffentlichen Auseinandersetzung um Atomkraftwerke Anfang der siebziger Jahre kennt. Wir gingen daher daran, uns diese zu erarbeiten. Wir haben versucht, uns dabei weitgehend auch auf Literatur zu stützen, die aus der Arbeit von Bürgerinitiativen hervorgegangen ist. Es blieb daher nicht aus, daß wir auch das Demonstrationsgeschehen jener Jahre in den Blick bekamen. Gerade die Jüngeren unter uns fanden daran ein großes Interesse. Dabei zeigte sich, daß fast von Anfang an das Problem der Kernschmelzmöglichkeit und die Forderung des Schutzes der Grundrechte eng miteinander verbunden waren. Auch stellte sich heraus, daß dieses Geschehen als Hintergrund gerade die beiden für uns so wichtigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts - die Kalkar-Entscheidung von 1978 und die Mülheim-Kärlich-Entscheidung von 1979 - erst verständlich macht.

Dieser collagenartige Rückblick bildet den ersten Teil dieses Buches.

Im zweiten Teil ist die Kernschmelzproblematik in Hinsicht auf die in der Bundesrepublik betriebenen Atomkraftwerke dargestellt. Das umfaßt den Aufbau und die Betriebs- und Schutzfunktionen von Druckwasserreaktoren, Kernschmelzunfallabläufe, ihre Folgen für die Menschen und die Umgebung und die Grenzen der Wirksamkeit von Katastrophenschutzmaßnahmen.

Die meisten Veröffentlichungen zur Kernschmelzproblematik befassen sich nur mit Druckwasserreaktoren. Mehrere der deutschen Atomkraftwerke sind aber Siedewasserreaktoren. Da es auch in diesen zu Kernschmelzunfällen kommen kann, haben wir auch dazu ein Kapitel in diesen Teil eingefügt.

Im Herbst 1997 sind die neuesten Aussagen zur Technik des EPR in der Öffentlichkeit vorgestellt worden. Bei genauer Betrachtung erkennt man, daß der EPR den Anforderungen, die zur Verwirklichung des Grundrechtsschutzes gestellt werden müssen, nicht genügt - und nicht genügen soll. Zusammen mit der Planungsgeschichte des EPR ist dies im dritten Teil beschrieben.

Schon im Juni 1997 wurden wir darauf aufmerksam, daß die Bundesregierung eine weitere Änderung des Atomgesetzes plante, mit der unter anderem ein sogenanntes Prüfverfahren für den EPR eingeführt werden sollte, bei dem auf die Beteiligungsrechte der Betroffenen keine Rücksicht mehr genommen wird. Am 1. Mai 1998 ist der § 7c Prüfverfahren des Atomgesetzes in Kraft getreten. Die Beschneidung der Rechtsschutzrechte der Bürger macht auch diesen Paragraphen grundrechtswidrig. Die Auseinandersetzung mit der Verfassungswidrigkeit beider Atomrechtsänderungen und mit den Auswirkungen der Rechtsprechung auf die Beschränkung der Grundrechte füllt den vierten Teil.

Das Ergebnis unserer Arbeit fassen wir in den folgenden Forderungen zusammen:

Stillegung aller Atomkraftwerke sofort.

Beendigung der Planungen für den EPR.

Wiederherstellung der Grundrechte als Schutzrechte der Bürger gegen die Gefahren aus der Atomenergie.

Ein Teil der Druckkosten für dieses Buch ist zusammengekommen aus vielen kleinen und einzelnen größeren Spenden von Einzelpersonen und Bürgerinitiativen, die zum Teil noch aus der Arbeit der AG gegen HTR übriggeblieben waren. Wir hoffen, daß wir sie im Sinne der Spender verwendet haben. Allen Geberinnen und Gebern gilt unser Dank.

Wir möchten auch denen danken, die uns während der Arbeit an diesem Buch mit fachlich- technischem und juristischem Rat und oft sehr hilfreicher Ermunterung unterstützt haben.

Für den Arbeitskreis Atom der BIU, Hannover, im August 1998

Anna Masuch


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